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Titel
Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen


Autor(en)
Güttler, Nils
Reihe
Historische Wissensforschung
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Philipp Kröger, Historisches Seminar, Universität Siegen

Es gibt Bücher, deren Titel viel versprechen, die sich bei der Lektüre jedoch als wenig ergiebig entpuppen. Bei Nils Güttlers nun als Buch erschienener Habilitationsschrift, entstanden an der ETH Zürich, ist Gegenteiliges der Fall: Insbesondere der Untertitel – „Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen“ – mag bei den Leser:innen nicht direkt die Erwartung wecken, dass hier eine innovative wissens- und umwelthistorische Studie auf sie wartet. Doch zeigt sich bereits auf den ersten Seiten, dass Güttler sich nicht nur in die neuerdings vorgenommene produktive Verknüpfung von Wissens-, Umwelt- und Technikgeschichte einreiht, besonders mit ihrem Blick auf Infrastrukturen.1 Vielmehr vermag er diese Forschungen auch konzeptionell zu erweitern.

Im Zentrum der Studie steht zwar der Frankfurter Flughafen, doch ist es vor allem eine Geschichte seiner Umwelt und damit der von ihm maßgeblich hervorgebrachten Region – des Rhein-Main-Gebiets. Mit dieser auf der Mesoskala ansetzenden analytischen Perspektive will Güttler „einen Zugang zu einer politischen Wissensgeschichte der Umwelt von Infrastrukturen“ legen (S. 8). So lasse sich die Genese modernen Umweltwissens weder allein über den diskursanalytischen Blick auf globale Strukturen und Prozesse noch über eine mikrogeschichtliche Perspektive der Wissensproduktion nachvollziehen. Diese Skalen kreuzten und multiplizierten sich vielmehr auf jener mittleren Ebene „der strategischen Allianzen, der politischen Verhandlungen, der infrastrukturellen Anpassungen und Justierungen“ (S. 14). Umweltwissen, so eine daraus resultierende These, sei im 20. Jahrhundert gerade nicht an Orten entstanden, die zeitgenössisch mit einer intakten Natur verbunden wurden, sondern an Orten, die durch Eingriffe in diese gekennzeichnet waren und sich in dem titelgebenden Zustand – „nach der Natur“ – befanden, also etwa in Industrieregionen (S. 16). Der Frankfurter Flughafen sei insofern als „Mitproduzent“ des Wissens von der Umwelt zu verstehen. Dabei brachte er jedoch zugleich, so eine weitere zentrale These, die „Bedingungen seiner Kritik“ hervor (S. 21).

Die vier Kapitel der Studie folgen zwar einer – sich bisweilen überlagernden – Chronologie, doch ordnet Güttler sein vielschichtiges Material vor allem anhand der vier von ihm identifizierten moralischen Ökonomien des Umweltwissens im 20. Jahrhundert. Diese lassen sich zugleich als jeweilige Bezugspunkte der heterogenen Akteursgruppen zwischen Wissenschaft, Politik und Ökonomie verstehen, die über den Flughafen verknüpft wurden und somit in den Kapiteln aufeinandertreffen. Die Vielzahl der Beteiligten wird auch im umfangreichen Institutionenregister deutlich, das von der Adam Opel AG bis zur Zentralstelle für Flugsicherung reicht.

Das erste Kapitel – „Heimat und Verkehr (1895–1936)“ – setzt im Kaiserreich ein und endet mit der Eröffnung des Frankfurter Flughafens in den 1930er-Jahren. Entgegen der weitverbreiteten Annahme eines Endes der Naturgeschichte zeigt sich in dem so ausgemachten Spannungsfeld, dass die naturgeschichtliche Heimatforschung des Kaiserreichs sich mehr und mehr auf die industriell überformte Natur bezog und sich besonders in der Weimarer Republik als Ressource der Regionalplanung etablieren konnte. Ging dem Flughafen die Konstruktion des Rhein-Main-Gebiets als Verkehrsregion voraus, lieferte die naturgeschichtliche Heimatforschung zugleich nötiges Umweltwissen für seine Realisierung.

Das zweite Kapitel – „Himmel (1909–1960)“ – analysiert vor allem Blickregime, die mit der Luftfahrt einhergingen und jeweils spezifisches Umweltwissen produzierten. Zu dem um die Jahrhundertwende installierten Blick nach oben, der „Ausweitung der Umwelt in die Vertikale“ (S. 111), gesellte sich der vertikale Blick auf Wetterphänomene, der in der Weimarer Republik vor allem durch die Segelflugforschung ermöglicht wurde. Klimawissen, so wird es deutlich, ging aus einem Amalgam wissenschaftlicher und ökonomischer Interessen hervor. Vor allem hatte dieses Wissen einen Ort. So entstanden Regionalklimata, „die epistemisch in der Nähe der großen Verkehrsinfrastrukturen und Wirtschaftszentren entsprangen“ (S. 114). Nach einer Phase der Zentralisierung im Nationalsozialismus zeichnete sich der Kalte Krieg durch eine „Re-Regionalisierung der wetterkundlichen Expertise“ aus (S. 171). Das heutige Wissen des globalen Klimas sei somit auch „durch regionale Wissensmotoren“ der „wirtschaftsnahen, durch den internationalen Luftverkehr beförderten Wetter- und Klimaforschung“ bedingt (S. 185).

Das dritte Kapitel – „Flüsse (1945–1972)“ – beschäftigt sich nur partiell mit einem tatsächlichen Fluss. Im Vordergrund steht zunächst der Fluss als Metapher, der eine Brücke zwischen Wissensformationen schlägt, die ab den 1950er-Jahren an Relevanz gewannen und auf den ersten Blick inkommensurabel erscheinen: Flughafenlogistik, Petroknowledge und (Flughafen-)Ökologie. Sie weisen jedoch interessante Schnittmengen und Wechselwirkungen hinsichtlich des Systemdenkens und der Managementpraktiken auf. Die sich spätestens Ende der 1960er-Jahre auch in der Bundesrepublik durchsetzende Ökosystemtheorie verknüpfte jedoch zugleich den verschmutzten Untermain und damit einen tatsächlichen Fluss mit dem Frankfurter Flughafen. Mit dieser Entwicklung sei nicht nur die Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus durchlässiger geworden, sondern aus „dem akademischen Nischenfach Ökologie wurde eine breit aufgestellte, interdisziplinäre Umweltwissenschaft“ (S. 254).

Die Auseinandersetzung um den Untermain während der 1970er-Jahre bildete darüber hinaus den Auftakt für den prominenten Konflikt um die Startbahn West. Dieser steht im Zentrum des vierten Kapitels: „Wald (1966–1984)“. Das Kapitel lässt sich als Kernstück des Buches lesen – demonstriert es doch gekonnt die Ambivalenz des Umweltwissens, das der Frankfurter Flughafen zwar maßgeblich hervorbrachte, das sich nun jedoch verstärkt gegen ihn wendete. Dies zeigt sich etwa anhand der über das politisch-epistemische Ding „Wald“ ermöglichten Allianz von Aktivist:innen und „Gegenexpert:innen“ (S. 293) beim Startbahn-Hearing im Hessischen Landtag 1981. Vegetationskundliche Kartierungen, die in längerer Kontinuität zur naturgeschichtlichen Forschung standen, ließen sich nun in eine Praxis der Bioindikation übersetzen und gegen den Flughafen mobilisieren. Einerseits führte dies zu einer Verwissenschaftlichung des Konflikts, die der unter Aktivist:innen verbreiteten Idee eines alltagsnahen Wissens von der Umwelt zunehmend entgegenstand. Andererseits konnte der Flughafen sich das Umweltwissen aneignen und opportune Forschung fördern. Mit dem Scheitern des Protests und dem damit verbundenen „ökologischen Verlust an realem Wald“ (S. 359) verlor nicht nur die brüchige Allianz von Wissenschaft und Aktivismus ihren gemeinsamen Bezugsrahmen. Das damit einsetzende Verschwinden des „alternativen Umweltwissens“ sei der „vielleicht auffälligste wissensgeschichtliche Effekt des Scheiterns der Bewegung“ (S. 360). Die Umweltwissenschaften hingegen erlebten vor allem nach dem Bau der Startbahn einen Aufschwung. Wie es Güttler im abschließenden Epilog skizziert, lässt sich seit den 1980er-Jahren zudem eine „Neoliberalisierung von Natur“ (S. 369) erkennen, die die Umweltfragen rund um den Flughafen mehr und mehr entpolitisierte.

Das Einzige, was den Lesefluss – um in der Metaphorik der Ökosystemforschung zu bleiben – bisweilen stört, ist der etwas zu häufige Verweis darauf, dass die (wissens-)historische Forschung die vom Autor eingenommene Perspektive der Mesoebene bislang vernachlässigt habe. Inhaltlich ist Güttler darin aber zuzustimmen. Die Studie bietet nicht nur einen erfrischenden Blick auf die Ambivalenzen von Umweltbewegungen und -wissen im 20. Jahrhundert. Insbesondere die besagte Mesoebene als analytisches Konzept kann auch jenseits des Frankfurter Flughafens neue Erkenntnisse zutage fördern. Wobei „zutage fördern“ fast wörtlich zu verstehen ist: Wie es Güttler etwa auch an der naturgeschichtlichen Baustellenforschung zeigt, brachten gerade Eingriffe in die Natur Wissen über diese hervor, beziehungsweise über das, was gemeinhin Umwelt genannt wird. So ist zu hoffen, dass Nils Güttlers Buch sowohl in der umwelt- und wissenshistorischen Forschung als auch in aktuellen Debatten eine breite Rezeption erfährt.

Anmerkung:
1 Vgl. neben der im Buch selbst genannten Literatur etwa Sara B. Pritchard / Carl A. Zimring, Technology and the Environment in History, Baltimore 2020.